Sylt – muss das so sein?

Wir nannten es damals die Wellenfang-Anlage. Mit den Kindern bauten wir an der Wasserkante zur See eine Hafenanlage, die sich regelmäßig mit kleinen Wellen aus der Ostsee füllte. Es war immer Wasser drin. Schnell stellten wir aber fest, dass das ersehnte Wasser das Bauwerk auch regelmäßig lädierte und die Zustrom-Kanäle und das Hafenbecken versandeten. Man musste also „am Ball bleiben“ und die Wälle und Kanäle ständig vertiefen oder anschütten und den ständigen Wellen „Nahrung geben“, um das eigentliche Bauwerk zu schützen. Das, was für uns ein herrlich meditativer Zeitvertreib im Sommerurlaub am Strand ist, ist für Schleswig-Holstein jedes Jahr harte Arbeit, um die Insel Sylt vor dem Untergang zu schützen. 

Mit einem millionenschweren Aufwand wird Sand an die ca. 40 km lange Westküste Sylts gespült, um das Meer von den schützenden Dünen fernzuhalten, die das letzte Bollwerk vor den Sturmfluten der Nordsee sind. Und da nach dem Winter nicht mehr viel davon übrig ist, muss jedes Jahr neu Sand an die Küstenlinie gespült werden. So deutlich wurde mir das jetzt bei einer Bildungsreise auf Deutschlands nördlichster Insel beigebracht. Die Dozentin Tanja zeigt mit beeindruckenden Bildern und Grafiken, was passiert, wenn die Küstenländer diesen Aufwand nicht betrieben. Schnell würden Inseln hier verschwinden und dort wieder neu entstehen. So landet der aufgespülte Sand nördlich von Westerland durch die Strömungen der Gezeiten auf der dänischen Insel Rømø, der Sand südlich von Westerland bereichert die Amrumer Küstenlinie – beide Inseln sind durch weitläufige Strände bekannt. Geografisch liegt Sylt auch schützend vor der Schleswig-Holsteinischen Festlandküste. Soweit klingt das erstmal logisch, was hier an Küstenschutz betrieben wird. 

Jetzt komme ich mit meiner Nachhaltigkeitsbrille und mir fällt das Wort von Naturgärtner Martin ein: „Es geht nicht GEGEN die Natur, es geht nur MIT der Natur.“ Und der Aufwand, der betrieben werden muss, um sich in Sylt gegen die Natur zu stemmen, ist immens. Nicht nur, dass Millionen Euro dafür ausgegeben werden. Dieselbetriebene Hopperbagger (so heißen die Baggerschiffe – siehe Wikipedia) pumpen Sand vor der Küstenlinie in Richtung Ufer. Das Ökosystem im Nordseeboden wird jedes Mal nach oben gekehrt und muss sich wieder neu finden. Und leider ist der Sand vor Sylts Weststrand auch nicht unendlich (wie gesagt: der angespülte Sand landet ja wieder woanders). Das Ganze gleicht einem Kampf gegen Windmühlen für einen extrem hohen Preis -sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich. Nachhaltig heißt für mich auch: ich kann das, was ich tue, so weiter machen, ohne den nächsten Generationen etwas weg zu nehmen. Alleine die Frage nach der Herkunft des endlichen Spülsands macht klar: dieser Küstenschutz ist nicht nachhaltig. 

Eine Woche hatten wir Zeit, die vielen Facetten dieser nordfriesischen Insel kennenzulernen. Und es sind sehr viele Facetten: Schon früh (Anfang 20. Jahrhundert) wurden große Naturschutzgebiete auf der etwa 99 km² großen Insel festgesetzt, sodass die ca. 2500 Tierarten ganzjährig vor dem Tourismusdruck geschützt sind. Und das tut Not. Inzwischen wohnen in den 12 Ortschaften nur noch rund 18.000 Menschen, die sich Jahr um Jahr hunderttausenden Touristinnen und Touristen gegenüber sehen. Nach wie vor wächst der Tourismus, was zu einem wachsenden Flächenverbrauch führt. Glücklicherweise sorgen Naturschutzrecht und Ortsrecht für die notwendigen Grenzen. Dennoch: der örtliche Flair einer lieblichen Nordsee-Insel, die sich durch Fischfang und sanften Tourismus ernährt, ist längst verloren. Auch in den verschlafenen Ortschaften wie Keitum oder Morsum schleppen sich die vielen über den Hindenburgdamm per Eisenbahn aufwändig hertransportierten Autos durch die engen, lieblichen Gassen und lassen wenig Platz für Fahrrad, Wandernde oder friesische Muße. Und da es bei den Unterkünften viele hochpreisige gibt, sind die Autos entsprechend breit, lang, hoch und laut (mit Ausnahme manch Hybrid-SUV). 

Beispielsweise in Kampen, der Sylter Promi-Hochburg kosten die kleinen, idyllischen Häuschen auf den winzigen Grundstücken viele Million Euro – weiß Tanja zu berichten. Nicht selten käme es vor, dass Menschen mit entsprechendem Portemonnaie sich ein Grundstück mit recht neuem Haus kaufen, das Haus aber abreißen (obwohl es weit davon entfernt ist baufällig zu sein). Im Nu verwirklichen sich die Neu-Sylter dann den Traum vom eigenen Heim nach individuellen Vorstellungen. So reiht sich in dem einstigen Fischerdörfchen Kapitalanlage an Kapitalanlage. Irre. Hier ist es in den Seitenstraßen dann eher still. Entweder sind die Promis oder DAX-Millionäre gerade mit ihren Autos auf der Insel unterwegs, am FKK-Strand oder gar nicht da. Ich bin sicher: Hier finde ich die eine Spitze der berühmten Schere zwischen arm und reich. Dem Portemonnaie der Gäste entsprechend sind auch die Promenaden hochwertig und die Gastronomie häufig hochpreisig. Einige ehemalige Fischbuden haben es bereits zu Bekanntheit auch außerhalb Schleswig-Holsteins gebracht und sind längst zur Kultgastronomie geworden. Alles in allem trifft hier finanzielle Oberschicht auf finanzielle Mittelschicht. Arme Menschen müssen auf dem Festland bleiben, weil sie sich die Anreise per Zug von Niebüll oder Fähre aus Rømø nicht leisten können, geschweige denn einen Flug auf die Insel (man glaubt gar nicht, wie groß die Maschinen sind, die da landen dürfen). Man bleibt also unter sich und gibt sich das Gefühl einer heilen Welt. 

Bedeutende weitere Facetten sind tatsächlich die Inselspitzen. Der „Ellenbogen“ ganz im Norden ist mautpflichtig und sorgt so schon für eine erholsame Reduzierung. Hier findet man den nördlichsten Punkt der Bundesrepublik sowie keine einzige Bierbude (hab ich am eigenen Leib leidlich erfahren). Die starke Gezeitenströmung des Lister Tiefs verbietet das Baden an diesem herrlichen Sandstrand, sodass es dort nur vereinzelt zu Touristen-Haufen kommt. Grasende Schafe auf den Salzwiesen bringen eine wunderbare Ruhe zwischen Ost- und Westfeuer, die wiederum irrenden Seeleuten die richtigen Positionen anzeigen. Wattseits dürfen sich Windsurfende austoben. Hier scheint es ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur zu geben, das ich andernorts auf der Insel deutlich vermisse. Interessant ist aber auch die Südspitze Sylts: die Hörnum Odde wird im Gegensatz zum Weststrand nicht durch alljährliche Sandspülungen geschützt, sodass diese Sandbank nach und nach an Substanz verliert. Das Ufer rückt Hörnum gefährlich nahe. Es ist nicht auszuschließen, dass die Strandbefestigung durch Beton-Tetrapoden etwas weiter nördlich die Gezeitenströmung entlang der Odde so ungünstig beeinflusst hat und somit der Abbau dieser schützenden Dünenlandschaft beschleunigt wurde. Ein Phänomen, das ich auch regelmäßig bei der Unterhaltung unserer Wellenfang-Anlage beobachtet habe. Ein Wall, ein Holz oder ein Stein an der einen Stelle sorgt für Strömungsveränderung an einer anderen. Tanja nannte dieses Spiel am Strand auch „Lee-Erosion“. Gucke. Da kriegt der Kampf gegen Windmühlen gleich einen professionellen Namen. 

Im nördlichen Naturschutzgebiet gibt es dann noch einige Wanderdünen, die sich über die Heideflächen bewegen – langsam, aber beständig. Eine Düne kommt der Landstraße nach List schon „gefährlich“ nahe. Man könnte der Natur freien Lauf und die Düne ein paar Jahre über die Straße hinwegwehen lassen. Diese wäre dann zwar für diese Zeit unpassierbar (ein Umleitung am Königshafen vorbei wäre aber möglich). Man könnte aber die Düne auch „festsetzen“ und mit reichlich Strandhafer bepflanzen. Dann steht die Düne still und sieht auch noch gut aus. Ist das natürlich? Ähnliches haben die Lister mit ihrem hässlichen Deckwerk gemacht. Das künstliche Küstenschutzwerk aus Beton, Steinen und Bitumen wurde in Ortsnähe kurzerhand mit Sand überdeckt, der dann mit dem praktischen Strandhafer zusammen für ein maritimes Dünenflair sorgt. Tünche auf Sylter Art. Ich ahne, was der Wanderdüne „blüht“. 

Nach einer Woche touristischem und bildendenden Inselleben habe ich ein noch nicht ganz geschlossenes Bild von Sylt: vielfältig, hoch-touristisch, gegensätzlich, natürlich, unnatürlich, nachhaltige Ansätze, maritim, konsumorientiert (der ganze Fisch, der dort gegessen wird, kann unmöglich von Sylter Fischern gefangen sein), dekadent, innovativ, hektisch … mir fallen sicher noch mehr Adjektive ein. Mein Eindruck: Sylt ist zu einem Kunstwerk verkommen. Künstlich wird diese Insel am Leben gehalten, damit die künstlich geschaffene Tourismuswelt bestehen kann. Wertvolle Natur und friesische Kultur ächzen zudem unter den Blechlawinen der Gäste und dem damit verbundenen Flächenfraß. Die meist zu hohe Geschwindigkeit der Autos nehmen den liebevoll hergerichteten Gassen die gebotene Langsamkeit, die man hier eigentlich kennt. Der Rhythmus der Gezeiten spielt keine Rolle mehr. Der Rhythmus der Autoreisezüge dominiert die Insel. Der Aufwand des Küstenschutzes, der Kampf gegen Windmühlen ist immens und wichtig. Ich kann nicht einschätzen, ob die Methode die richtige ist oder ob es Alternativen gibt. In Anbetracht dessen, dass der Meeresspiegel in den nächsten Jahren kontinuierlich steigen wird, scheint der Kampf aber nicht zu gewinnen sein. Langfristig droht der ganzen Insel das, was jetzt schon der Hörnum Odde widerfährt. Richtig schwere Sturmfluten sind in den vergangenen Jahrzehnten ausgeblieben. Wehe aber der veränderte Jetstream lässt die Tiefdruckgebiete über der Nordsee nicht so schnell weiterziehen wie er es noch vor den Klimaänderungen getan hat. Dann lässt der Westwind das ablaufende Wasser in der Ebbe nicht ablaufen und drückt die Flut doppelt stark an das Außen-Bollwerk Deutschlands. Die Insel droht dann überspült zu werden - mit verheerenden Folgen für die Süßwasserlinse und die Infrastruktur. Bleibt viel mehr als die geologisch interessanten Kliffs, die durch ihre Millionen Jahre alten Schichten in der Lage sind, der Nordsee länger zu trotzen? Ich ahne: Schleswig-Holstein und Deutschland haben keine Exit-Strategie – weder für die Immobilien-Millionen, die Einheimischen, noch für die Natur. Denn bislang traut sich niemand den Gedanken öffentlich zu Ende zu denken: was passiert, wenn der Aufwand des Küstenschutzes Sylts zu groß wird und die Strände den Naturgewalten überlassen werden müssen? Wer will das entscheiden, wann ein Aufwand zu hoch ist? 

Ich wünsche dieser Insel noch viele, viele Jahre ohne diese drohende Katastrophe. Aber bis dahin gilt es, die wachsende Schieflage des Insel-Geschehens zu korrigieren. Mein Tipp: Lasst als erstes die Autos von der Insel und gebt Mensch und Natur die Ruhe zurück, die Sylt geben kann. Schnell entsteht der Einklang, den eigentlich alle suchen, die auf einer Insel leben wollen – langfristig oder als Tourist. Dann ergeben sich die nächsten Schritte von ganz alleine: das Leben, die Gastronomie, der Tourismus werden von ganz alleine nachhaltiger, da sich dann Schnelllebigkeit verbietet. Entschleunigung wirkt Wunder. Dann geben wieder Ebbe und Flut den Ton an und noch viele Familien können sich erholsam am Strand im Einklang mit der Natur die Zeit vertreiben. Am besten beim Bau einer Wellenfang-Anlage.

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